Sonntag, 4. Januar 2009

Passage Alexandrine

Email aus Paris März 2003

Mittlerweile ist es ja doch ein paar Sonnabende her, dass ich Euch das Neueste aus der anderen Hälfte des alten Europas berichtet habe. Zu meiner Entschuldigung kann ich anbringen, dass es sich diesmal nicht als Abenteuerberichterstatterin auf Zeit vor Ort bin, sondern mich bis auf
weiteres hier zu Hause zu fühlen und mir ein Nest zu bauen habe. Das kann einen schon einmal ein paar Wochen in Anspruch nehmen.

Der Einsatz beginnt sich auszuzahlen. Ferdinand und Benjamin von gegenüber haben eine große Dachterasse, auf der sie ununterbrochen Aperitif ausschenken und großen Gruppen lärmender Franzosen mehrgängige Diners servieren. Da lohnt es sich schon einmal, in einen Frankenwein zu investieren, um sich näher zu kommen. Auch Hugo, mein Nachbar von der anderen Straßenseite winkte mich vergangene Woche ans Fenster, um mich auf einen Aperitif zu sich einzuladen. Jetzt weiß ich, dass er sich gemeinsam mit anderen Nachbarn verschworen hat, den Bürgermeister unseres Arrondissements einzuladen, um ihm vorzuführen, wie laut die Kinder in der Halfpipe nebenan sind. Für mich hingegen sind Halfpipe und Bolzplatz die einzige Entschädigung dafür, dass mein Grundig-Fernseher mit dem französischen Dekodierungssystem nicht fertig wird. Es gibt immer spektakuläre Unfälle zu beobachten, oder junge, verantwortungslose Väter, die lieber mit ihren Kumpels einen auf Zinedine Zidane machen, anstatt über ihre Kleinstkinder zu wachen, während die sich ohne Rollschuhe und Helm zwischen lauter Teenagern in Kampfausrüstung die Halfpipe hinunterstürzen. Ich habe erhebliche Zweifel, dass die Mutter ahnt, was sich da jeden Sonntag vor meinem Küchenfenster abspielt.

Jedenfalls sind Hugos' und meine nachbarschaftlichen Verhältnisse etwas unter Spannung geraten, als ich ihm vorhielt, ob es ihm denn lieber sei, wenn die Kinder mit Drogen dealten. Immerhin ist das leiser als Rollschuhfahren. Aber wir haben dann gottlob doch noch die Kurve bekommen. Es gelang ihm, mich sehr mit der Geschichte zu erheitern, wie seine Mutter
ihm in einem Brief vorhielt, er lebe in Todsünde, als sie Verdacht schöpfte, dass er nicht die ganze Zeit mit seiner Freundin im Katechismus liest, wenn er bei ihr übernachtet.

Im Mélac, meinem Haus- und Hofweinkeller nebenan, bekomme ich inzwischen auch ohne die schwangere Nina Bratsch ohne größeren Widerstand eine Karaffe Wasser, seit ich die betont unfreundlichen und bevormundenden Kellner gemeinsam mit meinen Eltern mit dem Konsum eine Flasche französischen Weins je Schnapsnase beeindruckt habe. Der Gemüsehändler aus Djerba begrüßt mich inzwischen mit Handschlag und verabschiedet mich jedesmal mit einem Bund Petersilie. Er fand es so lustig, daß ich "petersile" verlangte, obwohl es doch "persil" heißt. Das wiederum will mir komisch vorkommen, aber es ist mir zu kompliziert, ihm das zu erklären. Am Sonnabend kam er eigens aus eine hölzernen Bodenluke gekrochen, um sich danach zu erkundigen, wie es vergangene Woche in der mit Federica
Normandie war.

Christelle, Filmregisseurin von Beruf, wohnt auch um die Ecke. Natürlich habe ich sie auf einer Vernissage kennen gelernt. Sie zeichnet sich neben ihrem interessanten Beruf vor allem dadurch aus, dass sie die einzige bekennende germanophile Französin auf der Welt ist. Ihr gefallen nicht nur die deutsche Sprache und Literatur, sondern auch die deutsche Geschichte, was ich zum ersten Mal im meinem Leben höre. Ich freute mich aber so über die Zuneigung,
dass ich davon absah nachzuhaken. Während der Fußballmeisterschaft ging sie zum Entsetzen ihres Freundes so weit, eine Deutschlandfahne vor ihrem Fenster zu hissen.

Außer strenggläubigen Katholiken frequentiere ich als Ausgleich eine Gruppe strenggläubiger, wenn auch nicht orthodoxer Juden. Wie man es von ihnen erwartet, verfügen sie alle über viel Intelligenz, Bildung und Mutterwitz, und sie feiern und tanzen gerne. Das macht die Freundschaft sehr anregend und bereichernd und gleicht kleinere Unannehmlichkeiten aus, wie die, dass einige von ihnen sonnabends den Telefonhörer nicht abheben, weil sie keine Elektrizität benutzen dürfen. Auch kommt es gelegentlich vor, dass sie bei einer Einladung zum Abendessen nur den Reis verzehren, weil sie mir nicht glauben wollen, dass mein Hühnchen koscher ist. Zum Glück konnten wir nicht feststellen, wie es sich mit Rotbarsch verhält, und so zeigten sich meine Gäste einmal liberal und aßen auf Verdacht. Alleine hätte ich mir nun doch
nicht zugetraut, den ganzen Rotbarsch zu verzehren.

Elise und Julie sind hingegen ganz weltlich, essen und trinken alles und zwar nicht zu knapp, und stürzen sich ohne nennenswerte Proteste aus dem Elternhaus in zahlreiche Liebesabenteuer, meistens mit feurige Salsatänzern aus Kuba oder den Antillen. Ihre Freunde laden mich auf Grillfeste in die Vorstadt ein und Ostern haben wir essend, trinkend und diskutierend auf dem
Bauernhof von Elises Oma verbracht.

Essen und Trinken nehmen die Franzosen überhaupt sehr ernst. Das musste vor allem mein polnischer Kollege Andreij leidvoll erfahren, als er im Weinkeller den Käse auf das Baguette legte, anstatt das Brot zu öffnen und ihn hineinzulegen. Der schrille Entsetzensschrei von Olivier und Julie, der wie aus einem Munde kam, hallt mir heute noch in den Ohren. Alina, die sich zu dem Zeitpunkt mit Martin kurzfristig ein Liebesnest in Clichy gebaut hatte, half mir anschließend, mir den Schrecken gemeinsam mit den Kellnern aus dem Leibe getanzt. Aber Andreij konnte sich nie wieder so richtig erholen, jedenfalls ist er seither nicht mehr mit uns ausgegangen.

Berichtenswert erscheint mir auch noch, dass die Franzosen nach jahrzehntelangen erbittertem Widerstand vollständig und ohne Bedingungen vor der Dominanz der englischen Sprache kapituliert haben. Dies zeigte sich mir unlängst eindrucksvoll in der Metro, wo ein französischer Bettler am anderen Ende des Wagens eine längere Geschichte zum Besten gab, um seine Bedürftigkeit zu veranschaulichen. Offensichtlich nahm er dennoch nicht viel ein, denn als er bei mir ankam, murmelte er, er müsse Englisch lernen, die Leute verstünden ihn einfach nicht, wenn er französisch rede. Er tat mir so leid, dass ich doch noch schnell fünfzig Zents zückte.

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